Bühnenaufführungsrechte: Theater Verlag Desch GmbH, Berlin

(Ein Wohnzimmer, bürgerlich, aber zeitgemäß, das sich zu einem Eingangsbereich hin öffnet.

Clotilde kommt aus einem Zimmer, dessen Tür sie ein wenig offen stehen lässt.)

CLOTILDE Ich lass die Tür auf, aber jetzt musst du schlafen, Süße. Du musst schlafen.

(Clotilde trägt ein Abendkleid, aber sie ist barfuß. Sie durchquert schnell das Wohnzimmer und verschwindet kurz in einem anderen Raum, aus dem sie mit einem Blumenstrauß und einer Flasche Wein zurückkommt. Sie legt alles auf den Tisch am Eingang. Als sie im Vorbeigehen ihr Spiegelbild sieht, korrigiert sie ihr Make-up.

Pierre kommt aus dem Flur. Er lässt seinen Blick suchend durch das Zimmer wandern. Er trägt ein Hemd, eine Krawatte und eine ausgebeulte Trainingshose.)

CLOTILDE Alles klar?

PIERRE Hm hm.

CLOTILDE Hast du ihm gesagt, er soll seinen Schulranzen packen?

PIERRE Hm hm.

CLOTILDE Hast du ihm gesagt, er soll vor dem Einschlafen noch was lesen?

PIERRE Hab ich gesagt.

(Pierre steht vor seiner Bibliothek und geht die Regale durch.)

CLOTILDE Hast du…

PIERRE (unterbricht sie) Er liegt im Bett, hat die Zähne geputzt und sich sogar beim lieben Gott für seine Nudeln mit Ketchup bedankt.

(Clotilde schüttelt lächelnd den Kopf. Sie verschwindet in ihr Zimmer.)

CLOTILDE (off) Su-per! Zieh dich an.

PIERRE Ich komme.

(Sie kommt mit zwei unterschiedlichen Schuhen an den Füßen zurück.)

CLOTILDE Welche sind besser?

PIERRE (ohne sich umzudrehen) Die blauen.

CLOTILDE Die Auswahl ist schwarz oder beige.

PIERRE Hast du „Die Straße“ irgendwo gesehen?

CLOTILDE Die Straße?

PIERRE Cormack Mac Carthy. Ein Taschenbuch. Schwarzer Umschlag.

CLOTILDE Pierre, mach dich fertig. In 5 Minuten kommt Vanessa.

PIERRE Mit einer roten Banderole, wo „Pulitzerpreis“ draufsteht.

CLOTILDE Du liest jetzt sicher nicht deinen Pulitzer. Jetzt mach dich fertig.

PIERRE Nicht für mich, für Theo. (Pierre fängt wieder an zu suchen und findet das Buch.)

PIERRE Aha! (Clotilde kommt mit zwei identischen Schuhen zurück ins Zimmer.)

CLOTILDE Wie, für Theo? Hat er „Detektiv Justin Blake“ schon durch?

PIERRE Findet er scheiße.

CLOTILDE Er findet es scheiße, weil er nicht gern liest.

PIERRE Hast du’s gelesen?

CLOTILDE Was?

PIERRE „Detektiv Justin Blake“.

CLOTILDE Nein, Pierre. „Detektiv Justin Blake“ habe ich nicht gelesen.

PIERRE Aha. Also, ich kann dir bestätigen, es ist scheiße. Die Handlung ist Schwachsinn und die Figuren total konstruiert.

CLOTILDE Das ist ein Buch für Grundschüler.

PIERRE Er kommt in die Fünfte.

CLOTILDE Er schreibt Wasserbassin mit einem s und ä h.

PIERRE Auch wenn er etwas schwach in Orthografie ist, darf er sehr wohl eine Meinung haben.

CLOTILDE Vor allem ist er ein Faulpelz, der nur X-Box spielen will.

PIERRE Justin Blake ist wirklich blödes Zeug! Wenn du dir mal die Mühe gemacht hättest, da reinzuschauen…

CLOTILDE Ich hab es ihm gekauft, weil ich eine gute Kritik in „Eltern“ gelesen habe.

PIERRE Das war sicher ein Freund vom Verleger. Ich bin im Business, ich weiß, wie das läuft.

CLOTILDE Kommst du so zu deinen guten Kritiken?

PIERRE Na klar.

CLOTILDE Also du willst, dass er… (sie nimmt ihm das Buch aus der Hand) „Die Straße“ von Cormack Mac Carthy liest. Pulitzerpreis 2007.

PIERRE Ein Meisterwerk.

CLOTILDE Pierre, dein Sohn ist 10.

PIERRE Er ist viel weiter, als du denkst.

(Clotilde beginnt, laut die Inhaltsangabe vorzulesen. Pierre lächelt, als ob all das, was er hört,

eine wunderbare Erinnerung in ihm hervorruft.)

CLOTILDE (liest in ernsthaftem Ton) „Die Apokalypse ist vorüber. Die Welt ist verwüstet und mit Asche und Leichen bedeckt. Ein Vater und sein Sohn, die überlebt haben, irren auf einer Straße umher. In Regen, Schnee und Kälte gehen sie voller Angst ihren Weg: Horden von wilden Kannibalen terrorisieren das, was von der Menschheit noch geblieben ist. Werden sie ihre Reise überleben?“

PIERRE Soll ich dir mal den Klappentext von „Justin Blake“ vorlesen?

CLOTILDE Pierre, bitte!

PIERRE Er will was anderes lesen, ich gebe ihm was anderes. Warum bist du so verbohrt?

CLOTILDE Das heißt, wenn Prune eine Tätowierung haben will, gehst du mit ihr ins Tattoo-Studio?

PIERRE Man kann nicht immer alles für sie entscheiden.

CLOTILDE Doch, muss man sogar. Das nennt man Eltern sein. Deshalb sagst du ihm jetzt, er soll das Licht ausmachen, und machst dich fertig.

PIERRE Okay, aber das sagst du ihm. Ich bleib dabei.

CLOTILDE Gut, ich sag’s ihm, und du ziehst eine normale Hose an. Ohne Löcher und Fettflecken. Wir essen nicht in ihrer Garage.

(Clotilde geht ins Kinderzimmer. Pierre setzt sich auf einen Sessel.)